Dämmerung über Lichtental
Langsam setzte die Dämmerung ein und verschluckte die kleinen Straßenlaternen der verschlafenen Kleinstadt Lichtental. Der Mond war schon dabei, sein nachtblaues Tuch über die Häuser und Gassen zu weben. In den engen Gassen, wo die Zeit scheinbar stillstand, bewegte sich eine geheimnisvolle Gestalt, lautlos und vorsichtig: ein Havaneser namens Hugo.
Hugo war nicht irgendein Hund. Er schien die Gabe zu besitzen, Dinge zu erspüren, die den Menschen verborgen blieben. Mit seinem flauschigen, cremefarbenen Fell und den großen, dunklen Augen hatte er eine besonders einnehmende Erscheinung, die jeden, der ihn sah, glauben ließ, er sei einfach nur ein entzückendes Schoßhündchen. Doch unter seiner niedlichen Oberfläche schlummerte ein messerscharfer Verstand.
Hugo hatte schon früh gelernt, dass Lichtental nicht so idyllisch war, wie es schien. Als die Stadt in die Nacht tauchte, erwachten Geschichten von seltsamen Geräuschen und flüsternden Stimmen in alten Gassen. Und heute Abend führte Hugos feine Nase ihn zu einer unscheinbaren, aber altmodischen Haustür in einer der hinteren Gassen.
Mit seiner Pfote stupste Hugo die halboffene Tür vorsichtig weiter auf. Dahinter war es duster und der Geruch von Staub und alten Büchern drang aus dem Inneren. Hugo erinnerte sich daran, wie er diesen Geruch schon einmal wahrgenommen hatte — in der alten Bibliothek am Marktplatz. Doch dieses Haus war kein öffentliches Gebäude; wer immer hier lebte, wollte anscheinend verborgen bleiben.
Hugo streckte neugierig den Kopf hinein und lauschte. Leises Rascheln und das gemurmelte Flüstern aus einem prominenten Zimmer zogen ihn näher. Mit vorsichtigen Schritten schlich er sich die knarrenden Holzdielen entlang und folgte den unheimlichen Geräuschen. Plötzlich verharrte er, als er zwei Schatten durch die Tür des Zimmers im Schein einer flackernden Kerze huschen sah. Eine sanfte Stimme, fast wie ein gehauchtes Wispern, sprach: „Der Plan ist im Gange. Wir dürfen keine Fehler machen, besonders nicht jetzt.“
Hugo duckte sich hinter eine Kommode und riskierte einen weiteren Blick. Im schummrigen Halbdunkel sah er zwei Gestalten, die über einem großen, auf einem Tisch ausgebreiteten Plan standen, auf dem irgendetwas in kryptischen Zeichen gekritzelt war. Was auch immer diese Gestalten planten, es hatte etwas Dunkles und Geheimnisvolles an sich.
„Wir müssen sicherstellen, dass niemand etwas merkt. Wenn das Ritual heute Abend abgeschlossen ist, wird Lichtental nie wieder dasselbe sein“, hauchte die andere Gestalt, deren Gesicht unter einer Kapuze verborgen war.
Hugo wusste, dass er etwas tun musste, doch plötzlich knackte das alte Parkett unter seiner Pfote. Die Gestalten schauten erschrocken auf, und ihre bösen Augen funkelten im Kerzenlicht. Ehe Hugo sich versehen konnte, war eine der Gestalten auf ihn zugestürzt und griff in seine Richtung.
Plötzlich schloss sich die Tür hinter ihm mit einem ohrenbetäubenden Krachen und Hugo sah sich in einem Raum voller Schatten eingesperrt, während die Flammen der Kerze unheimlich tanzten und sich die geheimnisvolle Energie im Raum verdichtete. Hatte er eine Chance, den finsteren Plan zu vereiteln und Lichtental zu retten?
Teil 2:
Hugo spürte, wie sein Herz schneller und lauter schlug. Die Schatten in dem Raum streckten sich vor ihm, als ob sie ihn umarmen wollten. Doch Hugo war nicht bereit aufzugeben. Er erinnerte sich an die Worte seines alten Freundes, des weisen Schäferhundes Maximus, der einst sagte: „Furcht ist nur eine Illusion. Der Mut liegt darin, weiterzumachen trotz des Schreckens, der uns umgibt.“
Die Gestalten näherten sich, aber Hugo blieb ruhig. Er ließ seinen scharfen Verstand arbeiten und suchte nach einer Möglichkeit, zu fliehen und den bösen Plan zu durchkreuzen. Sein Blick fiel auf ein kleines Fenster, das leicht geöffnet war, genug Platz für einen cleveren kleinen Havaneser wie ihn.
„Da ist er! Fangt ihn!“, rief eine der Gestalten plötzlich. Hugo wusste, dass er handeln musste. Mit einem geschickten Sprung schnappte er nach einem herabhängenden Vorhang und schwang sich geschickt zum Fensterbrett. Noch bevor die Gestalten ihn erreichen konnten, zwängte er sich durch die schmale Öffnung ins Freie.
Kaum hatte Hugo wieder festen Grund unter seinen Pfoten, rannte er mit all seiner Geschwindigkeit durch die düsteren Gassen von Lichtental. Sein Ziel war die alte Bibliothek. Dort gab es Wissen, das ihm helfen konnte, den dunklen Plan zu vereiteln. Die durchwachsene, moosbewachsene Bibliothek wollte von den meisten Bewohnern gemieden werden, doch Hugo wusste, dass sie verborgene Geheimnisse barg.
Als er die Bibliothek erreichte, schlüpfte er durch die halbgeöffnete Tür und machte sich sofort auf den Weg zu den hinteren Regalen, wo die alten, geheimen Bücher aufbewahrt wurden. Er schleppte ein Buch aus einem inzwischen offenen Geheimregal heraus und schlug es auf. Die kryptischen Symbole in dem Buch ähnelten denen, die er auf dem Tisch im unheimlichen Haus gesehen hatte.
„Das Ritual der Vergessenen“, las Hugo leise vor. In dem Buch stand geschrieben, dass das Ritual dazu diente, Lichtental in eine ewige Dämmerung zu tauchen, in der Trauer und Dunkelheit die Seelen der Menschen für immer umhüllen würden.
Hugo wusste, dass er schnell handeln musste. Er las weiter und fand heraus, dass das Ritual nur in der nächsten vollen Stunde abgeschlossen werden konnte und dass es an einem bestimmten Ort durchgeführt werden musste: dem alten Glockenturm am Rande der Stadt.
Rechtschaffen eilte er aus der Bibliothek und machte sich auf den Weg zum Glockenturm, der hoch über Lichtental thronte. Seine Pfoten flogen über die schmalen Pfade, während die Sekunden unermüdlich verstrichen. Als er den Glockenturm erreichte, gelang es ihm, sich durch eine lose Planke im Holzzaun zu quetschen.
Auf dem Wege nach oben entdeckte er die beiden finsteren Gestalten, die bereits inmitten ihrer Beschwörung waren. „Noch ein paar Momente mehr und Lichtental gehört uns!“, rief die maskierte Gestalt triumphierend.
Hugo setzte seinen besten Waffengriff ein: seine Intelligenz. Er schnappte sich eine der Kerzen, die Teil des Ritualkreises waren, und rannte damit blitzschnell auf die andere Seite des Raums. Ohne das Licht der Kerzen konnte das Ritual nicht vollendet werden.
Wütend und überrascht jagten die Gestalten Hugo, doch seine Wendigkeit und Schnelllebigkeit machten sie müde und ungeschickt. In der Verwirrung stieß er die verbleibenden Kerzen um und erlöschte die Flammen. Mit einem letzten, energischen Bellen verdunkelte sich die beschwörende Energie im Raum abrupt und das Ritual war gebrochen.
„Nein! Was hast du getan?!“, schrie eine der Gestalten verzweifelt, als die Magie verschwand.
In den ersten Lichtstrahlen der Morgendämmerung verließen die Gestalten fluchtartig den Ort. Hugo, erschöpft aber zufrieden, trottete langsam die Stufen des Glockenturms hinunter. Keine weitere Gefahr drohte Lichtental für den Moment.
Als der Morgen in Lichtental anbrach, erwachte die Stadt zu einem neuen Tag, unwissend der tiefen Bedrohung, die sie in der Nacht gestreift hatte — und dem mutigen kleinen Havaneser, der sie gerettet hatte. Auf ewig würde Hugo der stille Wächter sein, der in den Schatten wachte und sicherstellte, dass Lichtental immer ein sicherer Ort blieb.