Das Flüstern des Tals
Kaum ein Geräusch durchdrang die stille Luft des abgeschiedenen Tals, als Alfred durch das taufeuchte Gras trottete. Alfred war ein Bernhardiner, groß und kräftig, doch mit einer Sanftheit in den Augen, die jeden Betrachter erstaunen ließ. Sein dichtes Fell verströmte eine beruhigende Wärme, die er besonders an frostigen Herbstmorgenden genoss.
Auf seinen Streifzügen durch das weitläufige Tal beschäftigte Alfred oft ein Gedanke: die Suche nach der verlorenen Zeit. Alfred erinnerte sich vage, dass er einst ein treuer Begleiter eines alten Mannes namens Herrn Müller gewesen war. Herr Müller war ein passionierter Wanderer, der seine Tage damit verbrachte, die verborgenen Winkel des Tals zu erkunden. Doch seit einige Wochen war Herr Müller nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Alfred hatte daraufhin die Stirn in tiefe Sorgenfalten gelegt und begab sich auf die Suche nach seinem Freund.
Das Tal, einst so vertraut und beruhigend, erschien nun wie ein Labyrinth aus Geheimnissen und verborgenen Wegen. Alfred spürte jede Veränderung im Wind und im Geruch der umliegenden Vegetation. Seine Jagdhund-Instinkte führten ihn immer tiefer in die geheimnisvollen Wälder, entlang von alten Pfaden und verlassenen Lichtungen.
Eines besonders kühlen Morgens traf Alfred auf eine alte, verfallene Hütte, die von dicken Efeuranken halb verdeckt war. Der modrige Geruch von Verfall vermischte sich mit dem kräftigen Duft von Farnen und Moos. Alfred näherte sich der Hütte vorsichtig, seine Sinne wachsam und sein Herz erwartungsvoll.
Als seine Nase den Rahmen der verwitterten Tür berührte, hörte Alfred plötzlich ein schwaches, menschliches Stöhnen aus dem Inneren der Hütte. Seine Ohren zuckten und er trat näher heran. Das Stöhnen wurde lauter und schien zu einer Stimme zu werden, die ihn eindringlich rief. Alfreds Augen weiteten sich, als er die Stimme erkannte: Es war Herr Müller!
Mit kräftigem Schub sprang Alfred gegen die morsche Tür, die mit einem Knarren aufsprang. Doch was er in der Hütte erblickte, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.
Herr Müller saß auf dem Boden, an einen Holzbalken gefesselt. Sein Gesicht war bleich und seine Augen blickten erschöpft, aber hoffnungsvoll zu Alfred hinüber. Neben Herrn Müller stand eine dunkle Gestalt, deren Gesicht im Schatten verborgen lag. Die Gestalt trug einen langen, schwarzen Mantel und hielt ein Messer in der Hand, das bedrohlich im schwachen Licht schimmerte.
Alfred knurrte tief aus seiner Brust und ging in Abwehrhaltung. Die Gestalt hob das Messer und sagte mit einer tiefen, rauen Stimme: „Wage es nicht, mich zu stören, Hund.“
Das Schicksal von Herrn Müller hing nun an einem seidenen Faden, und Alfred wusste, dass er keinen Fehler machen durfte.
Teil 2:
Alfreds Herz pochte heftig in seiner Brust, doch seine Entschlossenheit wuchs mit jedem Schlag. Der Bernhardiner wusste, dass er schnell handeln musste, um seinen geliebten Freund zu retten. Seine Augen wanderten kurz durch die Hütte, um nach einem möglichen Plan oder Schwachpunkt des Angreifers zu suchen.
Die dunkle Gestalt verharrte einen Moment lang, hielt das Messer jedoch weiterhin bedrohlich in der Hand. „Ich warne dich,“ krächzte die Stimme wieder. Aber Alfred ließ sich nicht einschüchtern. Er erinnerte sich an all die glücklichen Momente, die er und Herr Müller zusammen verbracht hatten, und dieses Band der Freundschaft gab ihm die Kraft, die er jetzt benötigte.
Mit einem kraftvollen Satz sprang Alfred auf die Gestalt zu. Überraschung zeigte sich im Gesicht des Unbekannten, und im letzten Moment versuchte er, das Messer zu heben, um sich zu verteidigen. Doch Alfreds Schnelligkeit und Entschlossenheit hatten die Oberhand. Er prallte mit voller Wucht gegen die Gestalt, sodass das Messer zu Boden fiel und unter einen alten Schrank rutschte.
Die dunkle Gestalt war aus dem Gleichgewicht geraten und stürzte rücklings zu Boden. Alfred nutzte den Moment, um sich zwischen Herr Müller und den Angreifer zu stellen. Der Bernhardiner knurrte, zeigte seine mächtigen Zähne und machte unmissverständlich klar, dass er keinen weiteren Angriff dulden würde.
Herr Müllers Augen füllten sich mit Tränen der Erleichterung. „Alfred, mein treuer Freund!“, rief er aus, die Stimme zitternd vor Freude.
Der Angreifer rappelte sich langsam auf und schien zu erkennen, dass er nun in der Unterzahl war. Schnell entschied er sich zur Flucht, riss die Tür der Hütte auf und verschwand im dichten Wald. Alfred blieb wachsam, bis er sicher sein konnte, dass die Gefahr vorüber war.
Endlich konnte Alfred sich Herrn Müller zuwenden. Er beknabberte vorsichtig die Fesseln, bis sie sich lösten und der alte Mann sich endlich wieder frei bewegen konnte. „Danke, Alfred“, flüsterte Herr Müller, während er den massigen Kopf seines Hundes zärtlich tätschelte. „Ich wusste, dass du mich finden würdest.“
Mit viel Mühe und gegenseitiger Unterstützung machten sich Alfred und Herr Müller auf den Heimweg. Der alte Mann erzählte Alfred von dem seltsamen Fremden, der ihn überfallen und gefangen genommen hatte. Warum, das wusste Herr Müller selbst nicht, aber darauf kam es nun auch nicht mehr an. Was zählt, war die Sicherheit und das Wiedersehen.
Durch das Tal, das Alfred einst wie ein Labyrinth erschien, führte er Herrn Müller sicher nach Hause. Der Herbst neigte sich dem Ende zu, und die ersten Schneeflocken tanzten durch die Luft. Doch Alfred spürte die Wärme der Freundschaft und Dankbarkeit, die sie umgab.
Als sie schließlich wieder die vertraute Hütte am Waldesrand erreichten, legte sich eine tiefe Ruhe über das Tal. Das Abenteuer, das Alfred und Herr Müller durchlebt hatten, wurde zu einer weiteren Erinnerung an die Stärke ihrer unerschütterlichen Bindung.
Gemeinsam, Seite an Seite, verbrachten sie den Winter, wohlbehütet und in der Gewissheit, dass wahre Freundschaft alle Hindernisse überwinden kann. Alfred wusste, dass, egal wie viele Geheimnisse das Tal noch für sie bereithielt, er stets treu an der Seite seines geliebten Herrn Müller stehen würde.